Patreysel

Die Geschichte vom Herrn Svensson

mit einem Nachwort von C.R. Patreysel

durch J. Elster


Leute sind wie Tage. Manche sind halt nicht so besonders. Sie laufen einfach nur vorbei. Eilen herbei, schwinden fort, in das Dickicht der Menge, in das Dickicht der Tage, das Dickicht der Menschen. Und man vergisst sie. Sagt der Herr Svensson.

Ich glaube, sagt der Herr Svensson dann, dass jeder Tag und jeder Mensch etwas Besonderes sein kann. Daran möchte ich glauben, sagt er, und lächelt ein verschmitzt-schüchternes Lächeln. Eigentlich ist es traurig, dass so viele von ihnen einfach vom Nebel verschluckt werden. Aber hoffentlich (und da leuchtet ein Sternchen in seinem Äuglein) kommen sie ja wieder… Herr Svensson lächelt verloren in eine nicht näher anzugebende Richtung. Da kommen sie wieder, da nahet ihr, ihr schwankende Gestalten… Jetzt lacht er plötzlich. Ein wenig laut lacht er. Wissen Sie, sagt er dann, ich bin ein ganz normaler Mensch. Aber auch normalen Menschen passieren, selbst an ganz normalen Tagen, merkwürdige Dinge.

Es ereignete sich an einem sonnigen und warmen Frühlingstag, ich glaube es war schon Mai und ich kam an einer dieser Straßen, an denen selten etwas passiert entlanggelaufen, und dachte vielleicht an Vieles oder vielleicht an das Nichts, und da traf ich plötzlich jemand, jemand an dessen Gesicht ich mich in diesem Moment partout nicht erinnern kann, aber vielleicht kommt das Bild ja wieder, ja ich hoffe es kommt wieder, denn es war ein netter Mensch, der mich etwas fragte, ich weiß nicht mehr was. Ich blieb stehen, beantwortete die Frage und der Mensch verschwand wieder und ich blieb allein zurück, lief nicht mehr weiter, sondern stand, zum Stillstand gebracht worden, einfach da. Vor mir ein Gegenstand. Ich betrachtete ihn.
Ein Gegenstand?
Nein, das stimmt nicht ganz. Zwei Meter von mir entfernt standen zwei Menschen. Das war der Gegenstand, den ich vor mir hatte. Die beiden Menschen waren in einander verschlungen, ja doch fast zu einer Figur verschmolzen, vielleicht kamen sie mir deswegen wie ein Gegenstand vor. Sie rührten sich nicht, aber sie sahen sehr glücklich aus. Nein, das stimmt auch nicht. Sie sahen nicht glücklich aus. Sie sahen verloren aus. Vollkommen verloren. Als wären sie irgendwo gelandet, ohne Ahnung von wo und für wie lange. Ich weiß noch, dass ich überlegt habe, ihnen vielleicht beizuspringen in ihrer Not, denn ihre Augen waren weit aufgerissen und sie starrten einander wie zwei Schiffsbrüchige an. Sie sahen aus, als würden sie offenen Auges aber dennoch mit seligem Lächeln das Todesreich betreten. Aber gerade als ich auf sie zugehen wollte, die paar Schritte zum Brückenansatz machen wollte, wo sie standen, da lösten sie sich aus ihrer Erstarrung, lachten plötzlich auf, drehten sich um und liefen Händchen haltend weiter, plaudernd wie zwei Kinder im Abenteuerland.

Irgendwie grundlos verärgert drehte ich mich ebenfalls um. Ich wollte meine Wege gehen, wollte vergessen was ich eben gesehen hatte. Aber als ich mich umdrehte stand ich zu meinem Erstaunen Aug an Auge mit einem anderen Herrn. Der Herr guckte mich wortlos an. Eine Sekunde lang, zwei, drei. Er machte keine Anstalten sich zu bewegen, sondern schien darauf zu warten, dass ich etwas sagte. Ich hatte aber gerade nichts zu sagen. Da seufzte der Mann leicht, und als er zusammensank, sah ich hinter ihm eine Frau. Auch sie mit der Miene eines wartenden Menschen. Noch bevor sie seufzen konnte, entdeckte ich hinter ihrem Rücken noch weitere zehn oder fünfzehn Menschen. Sie sahen aus, als ob sie schon ewig da stehen würden.
Je weiter nach Hinten ich guckte umso leerer wurden ihre Blicke. Ich guckte dem Mann direkt vor mir wieder ins Gesicht. Er ließ sich nicht beirren, sondern starrte zurück. Der Funken einer Erwartung, einer Hoffnung, war in seinen Augen noch nicht ganz erloschen. Die Augen glühten noch, aber sein Mund, seine Wangen, seine Lider hatten schon aufgegeben. Sie hingen schlapp am Gesicht, wie abgenutzt, zum Wegwerfen. Dann machte er eine Bewegung, er bückte sich kurz und ergriff den Koffer, der neben ihm gestanden hatte. Aber das war alles. Er blieb stehen, guckte mich unentwegt und jetzt noch entschlossener an. Es war eine Aufforderung. Ich erschrak. Ich schritt zurück. Diese Menschen, diese Gesichter, diese Schlange, man wollte etwas von mir, man erwartete etwas. Hier stimmte doch was nicht!

Ich schüttelte den Kopf. Starrte die Leute an. Und sie mich. Ich sie. Sie mich. Ich schüttelte den Kopf noch mal. Hier musste doch ein Irrtum vorlegen! Sie hatten sich bestimmt geirrt. Ja, so musste es sein. Sie hielten mich für einen anderen. Einen Augenblick lang überlegte ich, was zu machen wäre. Dann riss ich meinem Gegenüber den Koffer aus der Hand, knallte ihn auf den Boden, kletterte auf ihn hoch, formte meine Hände zu einem Megaphon und verlautete mit Sorgfalt und Deutlichkeit:
Mein Name ist Svensson. Ich bin nicht derjenige. Ich bin ein ganz normaler Mensch. Ich stehe vor ihnen als ein Mensch, wie jeder andere, wie jeder andere ganz normale Mensch.
Der Anfang gefiel mir. Aber weiter kam ich in meiner Ausführung nicht, denn ich wurde von einem dröhnenden Geklatsche übertönt. Sie, die Menschen da unten und vor mir, sagten immer noch nichts, aber sie klatschten. Und sie lächelten. In jedem Auge dieser sonderbaren Menschenmenge leuchtete die Vorfreude.
Ich hielt inne. Ich stieg von meinem Podest ab, ich reichte dem Besitzer, dessen Lächeln am Verwelken war wie eine vergessene Rose den Koffer, ich kehrte der Schlange den Rücken und dann lief ich. Ich lief davon, ohne mich nur einmal umzudrehen. Ich hatte Angst.

Das war schon immer so. Mir gefällt es nicht, wenn ich Menschen nicht verstehe. Wenn es etwas gibt, dem ich mein Leben widmen würde und gewissermaßen auch widme, dann ist es das Bemühen, andere Leute zu verstehen. Denn mein ganzes Leben lang frage ich mich, warum das so schwer ist. Und wie sie wohl sein mögen, die anderen. Wie ich?

Als kleiner Junge wurde mir mal ein Märchen erzählt, in dem ein Mädchen durch die Seelen flog. Sie konnte in andere Menschen eintreten. So tief hinein gelangte sie, dass sie mit dem Menschen verschmolz. Sie sah andere Menschen von Innen und sie konnte sie verstehen. Manchmal denke ich, man sollte kleinen Kindern keine Märchen erzählen. Ich habe der Geschichte geglaubt, ich dachte, dass es geht, dass man wirklich in andere Menschen reingehen kann. Und bis heute habe ich auch nie verstanden, warum das nicht gehen sollte. Aber das würde ich niemandem erzählen. Sie würden mich für verrückt halten.

Ich weiß, dass man in andere Menschen weder hinein gehen noch sehen kann. Dennoch möchte ich daran glauben, dass es nicht gänzlich unmöglich ist. Ich wünsche mir manchmal, dass ich irgendwann sagen könnte: Diesen Menschen verstehe ich.

Wer mich kennen lernt, denkt wahrscheinlich nicht, dass ich andere Menschen so sehr liebe, dass ich wünsche, ich könnte sie gänzlich verstehen. Man wird denken, ich mache mir aus anderen Menschen gar nichts. Tue ich auch nicht. Ich möchte am liebsten sehr wenig mit ihnen zu tun haben. Aber ich möchte sie verstehen. Manchmal wünsche ich, es wäre anders herum. Dass ich sie um mich hätte und nicht in sie rein wollte.

Ich bin ein vorsichtiger Mensch. Vielleicht hängt das mit meinem Aussehen zusammen. Ich bin ein ganz schmaler Mensch. Das habe ich von meinen Eltern, denn sie waren so dünn wie Rosskadaver. Beide. Und vom Leben habe ich auch nicht viel Fett abgekriegt. Oder sagen wir mal so: Fett will bei mir nicht ansetzen. Deswegen ist mir auch ständig kalt. Ich friere.
Auf der Arbeit sitze ich immer in der Ecke, am Ofen, da, wo es am wärmsten ist. Manchmal macht mich die Wärme schläfrig und ich schlafe ein. Da werden meine Kollegen ganz still. Meine Kollegen sind anständige Menschen.

An diesem Maitag, an dem ich plötzlich einer mystischen Schlange gegenüber stehe, flüchte ich in eine Kneipe. Es ist eine gute Kneipe. Sie ist verraucht und überfüllt. Hier kann man stehen und sehen ohne gesehen zu werden. Die Angst ist gleich verflogen. Geblieben ist eine Dumpfheit, die an Traurigkeit grenzt. Ich stehe herum in der Menschenmasse, frage mich plötzlich, ob diese Schlange wohl immer noch da steht, da draußen, auf der Straße, in der Nähe von der Brücke.
Ich bin ein ganz normaler Mensch.
Sagt in dem Moment jemand direkt hinter mir. Ich drehe mich um, gucke den Menschen, der vor mir steht, an. Er ist groß und sieht etwas klobig aus, mit einem freundlichen Gesicht, das ins nichtssagende geht. Wahrlich ein ganz normaler Mensch. Er unterhält sich mit einem kleineren, der desinteressiert durch eine dünne Brille lugt.
Ich verlange nicht viel, aber trotzdem muss ich anstehen. Das ist zum Verrücktwerden.
Ich runzle die Stirn. Anstehen. Ist notwendig. Sagt er. Ich möchte wissen was er damit meint.
Jeden Tag, dieses Warten…
Sagen Sie (so spreche ich ihn an), Sind Sie dafür, dass die Regierung ein Schlangenverbot erlässt?
Der dicke Herr guckt mich überrascht an.
Wovon reden Sie denn?
Oh, Verzeihung, ich dachte, Sie wollen nicht mehr warten, dann sollte man, dachte ich… ach, wissen Sie, vergessen Sie es, verzeihen Sie bitte.
Aber wieso, denn? Die Frage ist doch ganz interessant!
Ich schaue mein Gegenüber skeptisch an. Und stelle fest, dass dieser Mann doch irgendwie etwas ganz Unnormales hat. Ich kann nicht sagen genau was es ist, aber vielleicht ist das Wort dafür Interesse. Vielleicht sogar Sehnsucht.
Warten Sie auch?
Wenn ich nur wüsste, worauf! Ob ich worauf warte?! Ich schweige.
Warten Sie?
Ich schlucke.
Verzeihen Sie, bitte, aber worauf?
Da lacht er.
Auf eine Wohnung natürlich!
Meine Erleichterung kennt keine Grenzen. Und auch ich muss ein wenig lachen, ganz kurz, denn ich lache nicht sehr oft und bin darin nicht sonderlich geübt.
Trinken Sie noch ein Bier mit uns? fragt er mich. Und ohne auf eine Antwort zu warten, steuert der Dicke Richtung Theke.

Der Kleine und ich bleiben zurück. Er lächelt verhalten.
Ich brauche nicht mehr warten. Ich habe ein Haus. Sagt er.
Ich nicke. Sage, dass ich verstehe, denn das tue ich. Der Kleine hat ein Haus. Steht nie an. Für nichts. Hat schon alles was er braucht. Schön für ihn. Er irritiert mich. Jetzt geht er.

Der Dicke kommt zurück, balanciert drei Bier auf einem Tablett. Schaut sich um. Ich mache eine Bewegung. Man könnte sie als Schulterzucken deuten.
Ein Tisch wird gerade frei. Wir setzen uns hin. Plötzlich aber sind wir zu dritt. Eine dicke Frau besetzt den dritten und den vierten Stuhl. Ich will wieder aufstehen, überlege mir eine Entschuldigung. Mit fremden Leuten an einem Tisch zu sitzen, das geht einfach nicht. So was kann ich nicht. Aber ich sitze in der Schlinge, denn eine zweite Frau bahnt sich hinter meinem Rücken durch die Menschenmenge und versperrt mir den Fluchtweg. An ihren tapsigen Bewegungen erkennt man, dass sie blind ist.
Komm, setz dich hierhin, sagt die Dicke an unserem Tisch.
Mein Gegenüber reicht mir die Hand:
Ich heiße Patreysel, sagt er.
Mein Name ist Svensson, sage ich. Ich bin ein ganz normaler Mensch.
Ich merke plötzlich wie meine Hand zittert. Ich nehme einen Schluck Bier.
Ist Ihnen kalt? fragt Patreysel. Er betrachtet mich.
Ich räuspere mich. Ich kann nicht gehen. Was kann ich denn dann?

Wissen Sie, entschuldigen Sie, mir ist heute etwas passiert, sage ich, ohne eigentlich zu wissen, ob ich dieses Gespräch so, oder überhaupt, einleiten möchte.
Ich merke wie nicht nur Patreysel, sondern auch die beiden Frauen aufhorchen. Sie reden weiter, aber machen hier und da kleine Pausen, die sich sinnlos in die Länge ziehen. Ihre Worte schweben ungesteuert vor sich hin, ziellos, während ich die Geschichte von der merkwürdigen Menschenschlange erzähle.
Und sie standen einfach so da? fragt die dicke Frau als ich meine Geschichte beendet habe.
Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie anderen Menschen bei einem vertraulichen Gespräch zugehört hat.
Einfach so.
Ohne Grund? Fragt die Blinde.
Ohne Grund.
Patreysel schweigt. Er hat die Hände gefaltet.
Nichts passiert ohne Grund, behauptet er dann.
Die dicke Frau empört sich unverblümt.
Aber wirklich! Mein Herr! Als gäbe es keine Zufälle im Leben! Oder glauben Sie etwa wir hätten uns Ihre Gesellschaft heute ausgesucht?
Ich verstehe ihre Aufregung nicht. Ich trinke noch einen Schluck Bier, während ich überlege, ob sie Recht hat. Könnte es ein Zufall sein, dass fünfzehn Leute eine Schlange bilden? Die Dicke redet weiter, vom Zufall hier und Zufall da.
Patreysel hört ihr interessiert zu. Die Blinde macht Anstalten, etwas sagen zu wollen, aber wird immer wieder durch das Geschwafel der Älteren zum Schweigen gebracht. Sie seufzt leicht. Sie tut mir ein bisschen leid.

Jetzt schweigt die Dicke endlich. Sie wischt sich die Stirn, gerade zurückgekommen aus einer weitschweifigen Darlegung eines heißen Urlaubes in Ägypten, wo sie letztes Jahr durch einen schönen Zufall gelandet war.
Sagen Sie, warum standen Sie selbst eigentlich da? Fragt mich der Herr Patreysel.
Die Blinde guckt mich an, so wie Blinde einen angucken; unberührt von dem fehlenden Augenkontakt und der daraus entstandenen Kommunikationsstörung. Sie lächelt mich an. Ich fühle mich behindert. Die Dicke hat sich wieder gefangen. Auch sie lächelt mir ermunternd zu.

Einfach so, ich stand einfach so da, will ich sagen. Ich will sagen, dass es Zufall war, das zumindest ich Zufall war, wenn auch nicht die Schlange. Aber ich sage nur:
Das war da an der großen Brücke. Vor der Brücke, am Ansatz. Da standen zwei Leute. Nein, sie standen nicht an. Sie standen, ohne auf etwas zu warten. Und auch ich war stehen geblieben. Da hatte mich einer etwas gefragt.
Was denn?
Ich weiß es nicht mehr.
Aber, das müssen Sie doch wissen, empört sich wieder die Dicke.
Mutti, wenn er das nicht weiß, dann weiß er das eben nicht, sagte die Junge.

Ich überlegte wieder mal. Versuchte das Bild dieses Menschen wieder hervorzurufen, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich stellte fest, dass auch ich wohl manchmal blind war, und wunderte mich darüber. Und dann wusste ich es doch, plötzlich konnte ich mich an die Frage wieder erinnern.
Das war eine sehr belanglose Frage. Wo denn das Reichstagsgebäude läge, hatte man mich gefragt. Es lag fast genau vor uns. Ich habe nur in die richtige Richtung deuten müssen, weiter nichts. Deswegen hatte ich die Frage vergessen. War ja auch nicht wichtig. Als viel schlimmer empfand ich, dieses Gesicht nicht mehr vor mir zu sehen.
War ja auch nicht wichtig, zitiert der Herr Patreysel meine Gedanken. Er sollte Sie doch nur aufhalten, zum Stehen bringen.
Was meinen Sie jetzt wieder da mit? wollte die Dicke wissen.
Lass ihn doch endlich reden, Mutti! Erregte sich ihre Tochter. Die Dicke schwieg.
Sie blieben stehen. Irgendwie gedankenverloren standen Sie da. Und dann sahen Sie die beiden Menschen. Stimmt das?
Der Herr Patreysel hatte sich von der Frau nicht stören lassen.
Ja.
Und dachten an nichts?
Möglich.
Da räusperte sich die Blinde. Sie machte eine trotzige Bewegung.
Niemand denkt jemals an nichts. An irgendetwas müssen Sie gedacht haben.
Ich sah sie an. Und ich wünschte mir, dass ich wirklich an etwas gedacht hätte. Dass ich schöne, bunte Gedanken gehabt hätte, die ich jetzt vor sie hätte ausbreiten können wie einen orientalischen Teppich, den sie nicht hätte sehen brauchen. Sie hätte ihn hören können. Fühlen, einatmen.
Aber ich konnte nicht lügen. Ob ich es wollte, oder nicht, ich müsste ihr sagen, dass ich an nichts Besonderes gedacht hatte. Es waren Gedanken, wie die, die ich jeden Tag denke. Ich dachte an die Menschen, und ich dachte an das Glück.

Meine Großmutter, die noch dünner als meine dünne Mutter war, pflegte immer zu sagen, dass das Glück nur wenige Menschen trifft. Nicht jeder würde in seinem Leben glücklich.
Ich wusste, dass sie Recht hatte, aber heutzutage sehen die Menschen das ganz anders. Sie bestehen auf ihr Recht aufs Glück. Aber wissen sie denn eigentlich, was Glück ist?
Heutzutage glauben die Menschen, dass Glück Sorglosigkeit bedeutet. Von den Werbetafeln runter schreit uns die Sorglosigkeit an. Aber, überlege ich dann weiter, wenn Glück Sorglosigkeit bedeutet, dann will ich das Glück nicht. Meine Sorgen würden mir doch fehlen! Die verfroren Glieder würden mir beim Aufstehen fehlen, der schwache Kaffee, den mir meine dünne Tante kocht, das Knacken meines Kiefers beim Kauen des dicken finnischen Graubrots, der lange Weg zur Arbeit durch die ganze Stadt, die Unhöflichkeit des Pförtners beim Ankommen im Morgengrauen. Das Alles würde mir fehlen! Was hätte ich, wenn ich all das nicht hätte? Ich will keine Sorglosigkeit, entscheide ich. Ich will sie ganz bestimmt nicht.
Ich verweile an meinem Ofen. Ich erwärme mich an meiner Arbeit. Mir ist eine Aufgabe zugeteilt worden und ich führe sie aus. Ich führe sie aus und alle sind zufrieden und wenn alle zufrieden sind, dann bin ich auch zufrieden. Ich will Zufriedenheit, keine Sorglosigkeit. Ich würde gern glücklich sein, und manchmal glaube ich es auch zu sein, aber eigentlich, eigentlich gehöre ich nicht zu den Glücklichen. Das Glück, das richtige Glück, trifft halt nur wenige.

Die Leute am Tisch schweigen. Ich habe sie verstimmt. Das wollte ich nicht. Sie werden jetzt sicherlich gehen. Dann wäre ich wieder allein.

Aber sie gehen nicht. Sie scheinen alle drei zu überlegen. Herr Patreysel öffnet den Mund, aber schließt ihn wieder. Die dicke Frau an seiner Seite macht eine Handbewegung, als würde sie auf etwas vor ihr deuten wollen, aber lässt die Hand wieder fallen.
Dann spricht die Blinde. Sie redet ganz leise, aber dennoch eindringlich, und sie schiebt ihre kleine Hand in meine Richtung als würde sie nach etwas greifen.
Lieber Herr Svensson, wie Sie sehen bin ich blind. Ich habe nie gesehen wie ein Mensch aussieht, wenn er glücklich ist. Sagen Sie mir, ist es denn leicht zu erkennen?
Ich erröte. Es ist ein neuartiges Gefühl, macht irgendwie warm. Es ist unangenehm und sehr angenehm zugleich. Die beiden anderen merken es oder sie merken es nicht. Auch sie scheinen verlegen und ihre Blicke bekommen etwas Vages und Verschwommenes.
Oder wollen Sie nicht?
Wie könnte ich das nicht wollen, wie könnte ich ihr das verweigern? Aber ich fürchte, der Aufgabe nicht gerecht zu werden.
Aber natürlich… sage ich.
Jetzt muss ich nur noch fortsetzen.
Man wartet. Aber um Himmels Willen, wie soll ich denn das erklären können.
Vor mir die kleine Hand auf der Tisch. Sie ist so schmal. Die Finger sind gespreizt, als würde die Hand etwas aufhalten wollen. Als würden sie etwas verhindern wollen.
Ich habe sie doch heute gesehen. Ja, ich habe die glücklichen Menschen heute gesehen.
Sage ich.
Gerade vorher, bevor die… also als ich die Menschenschlange noch nicht erblickt hatte, da hatte ich zwei Menschen gesehen, die wahrscheinlich sehr glücklich waren. Ja, ich glaube sie waren glücklich.
Sie glauben…?
Nein, ich glaubte nicht. Ich wusste, dass sie glücklich waren. Sehr glücklich.

Sie müssen verstehen, sage ich ihr, wenn Menschen glücklich sind, dann, glaube ich, macht ihnen das Glück Angst. Sie haben Angst, dass das Glück plötzlich wieder verschwindet. Und diese Angst ist fast größer als das Glück. Sie, die beiden Menschen vor der Brücke, sahen aus, als hätten sie große, große Angst. Aber gleichzeitig sahen sie sehr glücklich aus. Und ich glaube sie waren wirklich glücklich, denn sie haben im nächsten Moment gelacht.

Ich verstummte. Ich schwitzte.
Und dann waren Sie auch glücklich?
Ich schwieg. Ich wünschte wieder mal, dass mein wahres Ich ein Anderes wäre. Die glücklichen Menschen hatten mich ja nicht glücklich gemacht. Ganz im Gegenteil. Ich hatte mich geärgert. Nein Glück war ganz bestimmt nicht das richtige Wort. Nein, sie haben mich nicht glücklich gemacht, sagte ich, ohne zu atmen. Und jetzt muss ich leider gehen.
Dann wollte ich aufstehen. Aber sie hatte meine Hand ergriffen, sie, die Blinde an meiner Seite.
Gehen Sie doch nicht. Wir haben das Ende ja noch nicht erfahren. Sie können wirklich jetzt nicht einfach gehen. Außerdem haben Sie Ihr Bier noch nicht ausgetrunken.
Sie sprach mit einer Entschlossenheit, die ein Flehen verbarg.
Ich erstarrte. Sie hielt immer noch meine Hand in der ihren. Ich schaute auf mein Bierglas. Es war leer, bis auf einen Mundvoll. Ich wollte etwas sagen, aber ich konnte nicht.
Da schritt Herr Patreysel ein, er kam zu meiner Rettung. Die Blinde behielt meine Hand.
Vor vielen Jahren, sagte der Herr Patreysel, als meine Frau noch ein kleines Kind war, hatte sie eine merkwürdige Begabung. Diese Begabung verschwand mit den Jahren, was sie zu Anfang bedauerte, später aber für folgerichtig und angemessen hielt. Ihre Begabung bestand darin, immer vorher zu wissen, was ein Mensch gerade sagen würde. Es kam vor, dass sie deswegen schon im Voraus nickte, als der jenige noch nicht einmal den Mund aufgemacht hatte. Manchmal fand sie das ganz lustig. Manchmal war es ihr aber auch peinlich dieses merkwürdige Talent zu besitzen. Sie glaubte misstrauisch beäugelt zu werden. Deswegen bemühte sie sich immer möglichst erstaunt auszusehen. Sie wollte nicht, dass die Leute erfuhren, dass sie etwas über sie wusste. Also sperrte sie die Augen auf, öffnete leicht den Mund, um die Pforte für ein herausrollendes Aha aufzumachen und schaute mit dieser perfekt nachgeahmten Miene jedem und jeder an, der was zu sagen hatte, oder etwas sagen wollte.
Diese Miene wurde sie nie los. Noch heute sieht diese, die klügste von Frauen, so aus, als würde sie jedem jedes Wort glauben, als könne sie gar nicht darauf warten endlich informiert zu werden. Und ahnungslose Menschen finden an der Miene Gefallen, erzählen ihr die törichtesten Sachen, denn endlich, so denken sie, haben sie jemand gefunden, die…
Herr Patreysel hustet.
Trinken Sie, sagt die Dicke. Patreysel trinkt.
Die ihnen zuhört? Ergänzt die Blinde.
Her Patreysel hustet und nickt und hustet. Dann endlich räuspert er sich.
Ja, meine Frau ist eine wundervolle Zuhörerin.
Er lächelt verloren.
Wie haben Sie sich kennen gelernt?
Patreysel schweigt eine Weile.
Wissen Sie, sagt er dann, ich habe dieses staunende Gesicht sofort geliebt. Und wenn ich dahinter kam, was es barg, dann liebte ich es noch mehr. Aber dafür musste ich sie erst kennen lernen. Es ist nicht einfach einen anderen Menschen kennen zu lernen.
Herr Patrysel trinkt sein Bier aus.
Wissen Sie, ich wollte Sie nicht aufhalten, aber diese Geschichte ist mir gerade eingefallen, als Sie Herr Svensson von dem Märchen erzählten. Vielleicht hätte ich sie Ihnen nicht erzählen sollen. Ich hoffe ich bin Ihnen damit nicht zu nahe getreten.

Ich hatte dem Patreysel etwas unkonzentriert aber dennoch angespannt zugehört. Die Geschichte betraf mich, und zwar in höchstem Maße. Ich fühlte mich wie ein Schüler, der die Schule schwänzt, ohne zu wissen warum.
Aber nein, sagte ich, nein… doch.
Ich wollte aufstehen und doch nicht. Ich wollte etwas sagen. Aber was?
Ich schaute mich hilflos umher. Meine Nachbarn schauten mich etwas verwundert an. Ich gab mir einen Stoß.
Aber sicher doch, Herr Patreysel, wie könnten Sie mir zu nahe treten?
Da sah ich plötzlich ein Schmunzeln im Gesicht der dicken Frau mir gegenüber. Sie sah meinen Blick, zögerte kurz, aber bemerkte dann:
Entschuldigen Sie Herr Svensson, ich musste gerade daran denken, dass man Ihnen wohl sehr gern zu nahe tritt…
Wie bitte, meinen Sie das?
Machte sie sich über mich lustig?
Nun, ja, sie stehen ja manchmal sogar an um an Ihnen teil zu haben.
An mir! Diese Menschen wollten doch nicht etwa von mir was?
Zu meinem Erstaunen schienen meine neuen Freunde dem nicht zuzustimmen. Sie murmelten ein „doch“ und ein „ich denke schon“.
Ich blickte sie verstört an. Aber wieso denn? Wieso denn ich? Ich war kurz davor aufzuspringen, als der Herr Patreysel wieder sprach:
Wissen Sie, Herr Svensson, ich bin ein gutmütiger Mensch. Ich habe wenig Bildung, bin vielleicht kein Genie, aber ich glaube zu wissen, was ein gutes Leben ist. Ich schätze das Gute am Leben und gebe mir Mühe so viel Zufriedenheit in meinem Leben zu finden wie möglich. Ja, man könnte mich sogar sorglos nennen, aber das wäre doch nicht ganz richtig. Auch ich habe Sorgen. Kein Mensch kommt ohne Sorgen durch das Leben. Aber ich freue mich, ja, weiß Gott, ich freue mich sehr, wenn ich eine weniger habe. Aber Sie, Sie sind nicht wie ich. Sie sind ein anderer Mensch, und Sie, so kommt es mir vor, haben beschlossen nicht glücklich zu sein. Und wissen Sie, das verärgert mich. Sie erinnern mich an jenen Mann, der sein ganzes Leben lang an einer verschlossenen Tür saß und niemals auf die Idee kam zu klopfen.
Meine Nachbarin schien etwas sagen zu wollen, aber stattdessen sprach jetzt ihre Mutter. Sie guckte mich streng an.
Lieber Herr Svensson, bleiben Sie noch einen Moment. Noch ist der Ausgang nicht offen. Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, dass diese Schlange von Ihnen etwas ganz Normales war. Es waren Leute, die auf das Glück warteten, auf das Glück hofften und sich freuten. Durch Zufall, ja durch Zufall, waren Sie da hinein geraten. Sie wären dran gewesen. Aber Sie wollten nicht. Nein, Sie wollten nicht glücklich sein.
Bei ihren Worten wurde mir kalt. Dann wurde mir heiß.

:::

Seit jenem Tage ist Herr Svensson mein Freund. Er ist mein guter, schüchterner Freund, der mich wöchentlich besuchen kommt und der durch den Kuchen, den meine Frau backt tatsächlich so etwas wie einen Bauchansatz bekommen hat, wenn auch nur einen kleinen.
Der Herr Svensson kommt, aber er kommt nicht allein. Dass er nicht allein ist, kommt daher, dass Herr Svensson an dem Tag, an dem wir uns kennen lernten dem Glück begegnete. Sie kommen zu zweit, sie gehen zu zweit, der Herr Svensson und sein Glück. Es ist, als würde er das Glück nie aus den Augen lassen wollen. Und wer tadelt ihn schon deswegen? Ich bestimmt nicht. Jede Nacht, bevor ich das Licht ausmache, schaue ich meine Frau an, küsse sie leicht auf die Stirn und bewundere ihre erhobenen Augenbrauen, die im Schlaf leicht zucken. Und ich weiß, dass ich ohne sie nichts wäre.

Und jeden Sonntag weiß ich, dass während ich in meiner schönen neuen Wohnung behaglich am Kamin sitze und gemütlich auf den Besuch warte, spaziert der Herr Svensson mit seiner blinden Frau durch die Stadt. Und sie fragt ihn immer wieder: War das hier? Hast du hier die wartenden Menschen gesehen? Wo sie wohl jetzt sind?
Und Herr Svensson, dem es bange ums Herz wird, wenn er seine Frau anblickt, er sagt leise, aber mit einem seligen Lächeln: Sie sind hier, genau hier. Hier, bei uns, im Glück.


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